Verbannt aber nicht vergessen: MG-Werl erinnert an Werner Halle

100 Jahre wäre Werner Halle in diesen Tagen geworden. Er war der letzte jüdische Schüler des Marien-Gymnasiums, der wegen seiner religiösen Zugehörigkeit die Schule 1938 verlassen musste. Seine im Werler Gesellschaftsleben bestens integrierten Eltern erkannten die drohende Gefahr, konnten sich selbst aber nicht mehr retten. Sie ermöglichten jedoch ihrem damals 14-jährigen Sohn, einen Platz in einem der letzten Kindertransporte über die Niederlande nach England zu ergattern und retteten ihm damit das Leben. Werners Eltern kamen in der Shoa um. Werner, der sich im Exil den Namen „Vern“ gab, starb 2005 mit 81 Jahren in seiner neuen Heimat.

Auf einem schwarz-weiß vergilbten Foto aus dem Sommer 1938 lächelt eine Schulklasse dem Fotografen freundlich entgegen. Alle Jungen auf dem Bild lächeln – bis auf einen. Dieser steht in weißem Hemd ganz links auf dem Foto, weicht mit seinen Augen der Kamera aus, weg vom Fotografen. Nur wenige Wochen nach der Aufnahme dieses Fotos musste dieser Junge, Werner Halle, die Schule verlassen. Nicht, weil er randaliert hatte. Nicht, weil er aufsässig gewesen wäre oder schlechte Noten heimgebracht hätte. Er wurde wegen seines Glaubens der Schule verwiesen.

Vom Außenseiter zum Exilanten: Drei Fotos zeigen Werner Halle in seinen Jugendjahren am Werler MG. 

Nach der Pogromnacht am 9. November 1938 trafen die Eltern des jungen Werner eine schmerzliche und doch richtige Entscheidung. In einem der letzten Kindertransporte wurde der 14-jährige Junge weg von der Gefahr aus Deutschland über die Niederlande nach England geschickt. Bis zu seinem Tod 2005 lebte er dort. Hans-Jürgen Zacher machte ihn dort 1986 ausfindig. Werner – oder nunmehr „Vern“ – konnte oder wollte sich offenbar nicht mehr an seine Kindheit erinnern. Die Gespräche mit Zacher und die Konfrontation mit seiner Vergangenheit bewirkten aber wohl, dass er sich allmählich an das Geschehene in seiner Jugend erinnern konnte. Werner Halle suchte später sogar die Orte seiner Kindheit in Werl auf. Dabei entstand ein Buch, das diesen Prozess begleitet. Am Dienstag vor dem Maifeiertag besuchte Autor Zacher das Marien-Gymnasium, sprach vor Schülerinnen und Schülern von der Jahrgangstufe 8 bis zur Oberstufe über seine Begegnungen mit Werner Halle – in der Aula, die nach Werner Halle benannt wurde. Er wäre am Tag zuvor, am 29. April 2024, 100 Jahre alt geworden. Vor stillen, nachdenklichen, sehr aufmerksamen Jugendlichen warnte Zacher in Erinnerung an die Grauen der Nazizeit auch vor dem heutigen, neuartigen Antisemitismus. Er appellierte: „Immer das Beste tun in jedweder Form. Eintreten gegen jedwede Form der Entrechtung, gegen alles, was die Menschenwürde verletzt. Darum bitte ich euch alle ganz herzlich.“

Schulleiter Michael Prünte hatte diesen Appell eingangs in seiner kurzen Begrüßungsrede mit einem Blick auf die aktuellen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen bereits unterstrichen: „Auch Euch, den jungen Menschen, die an den Verbrechen der NS-Zeit nicht beteiligt waren, muss gesagt werden: Was damals geschehen ist, wird und darf nicht vergessen werden. Erinnern ist nicht nur eine Aufgabe des Verstandes, sondern auch der Herzen. Unser Gemeinwesen ist verankert in Demokratie, Toleranz und Rechtsstaatlichkeit, unsere Zugehörigkeit zu einem vereinten, friedlichen Europa sind starke Abwehrkräfte, um eine Wiederholung der Barbarei zu verhindern.“ Neben der Aufgabe des Erinnerns sei vor allem das praktische Handeln wichtig, betonte der MG-Schulleiter: „Hier und jetzt in unserer Schule, von jedem einzelnen. Wir wollen nicht nachlassen in unserem Streben, ein weltoffenes, tolerantes Deutschland zu schaffen und zu erhalten, ein weltoffenes und tolerantes Marien-Gymnasium. Ich appelliere darum auch an diesem Tag an Euch alle, jeder Minderheiten- und Ausländerfeindlichkeit, jeder Politik der Ausgrenzung eine deutliche Absage zu erteilen. Wir wissen, wohin Rassenwahn und Überlegenheitsgefühle führen können. Wir schulden den Opfern des Holocaust unser Gedenken, unser Erinnern. Der Völkermord ist Teil unserer Geschichte geworden. Wir wollen auch heute und in Zukunft aus dieser Geschichte lernen. Ich bitte Euch daher, der heutigen Veranstaltung mit wachen Augen, wachem Verstand und hörendem Herzen beizuwohnen.“

Die Gedenkveranstaltung wurde von den Religionslehrern Dagmar Kaltwasser und Alexander Bödeker organisiert. Musikalische Begleitung erfuhr sie durch die Zehntklässler Jaden Morche und Joscha Backer.

Silvia Rinke

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